An Deutschlands Schulen sind Lehrkräfte Mangelware. Änderung nicht in Sicht. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie reichen von Sparzwängen über steigende Schüler*innenzahlen bis zur anstehenden Pensionierungswelle. Dazu kommen immer neue Aufgaben für die Schulen, wie etwa der Ausbau von Ganztagsangeboten, und obendrein der pandemiebedingte Ausfall von Lehrkräften und das Beschäftigungsverbot einiger Bundesländer für schwangere Lehrerinnen. Um den Unterrichtsbetrieb aufrechterhalten zu können, brauchen die Schulen also dringend neues Personal. Doch woher nehmen?
Mangel an ausgebildeten Lehrkräften macht Quereinstieg möglich
Um die Lücken in den Kollegien zu schließen, setzen sie seit Jahren auf Quereinsteigende. Laut einer Untersuchung des Deutschen Schulportals entfielen in Berlin für das aktuelle Schuljahr mehr als die Hälfte der Neueinstellungen auf Quereinsteiger*innen. Doch auch in den anderen Bundesländern ist die Situation angespannt. In Bayern etwa wirbt das Kultusministerium mit verschiedenen Sondermaßnahmen aktiv für den Quereinstieg. Stefanie Mayr-Leidnecker, Schulamtsdirektorin im oberfränkischen Landkreis Lichtenfels, erzählt: „Wir haben seit vier Jahren vor allem an den Grund- und Mittelschulen zu wenig ausgebildete Lehrkräfte. Dank vielfältiger Maßnahmen ist es uns bisher gelungen, Unterrichtsausfälle weitgehend zu vermeiden.“ Dazu zählt unter anderem die befristete Einstellung von sogenannten Team- und Vertretungslehrkräften. „Unsere Versorgung ist so auf Kante gestrickt“, sagt Mayr-Leidnecker, „dass ich dankbar bin für alle fachlich kompetenten Quereinsteiger*innen.“ Die „Neuen“ werden also dringend gebraucht, trotzdem ist ihr Ruf eher durchwachsen. Woran liegt das?
Bereicherung oder Notlösung?
Quereinsteiger*innen haftet der Makel an, keine richtigen Lehrkräfte zu sein, sondern nur eine Notlösung. Fehlen den Quereinsteigenden aber tatsächlich wichtige Kompetenzen oder sind die Spätberufenen im Gegenteil vielleicht sogar eine Bereicherung für die Schulfamilie?
Helmut Hochschild war vier Jahrzehnte lang in verschiedenen Positionen im Berliner Schuldienst tätig, zuletzt als Seminarleiter im Vorbereitungsdienst für das Lehramt an allgemeinbildenden Schulen. Er sieht, was ihre grundsätzliche Eignung angeht, insgesamt kaum Unterschiede zu klassisch ausgebildeten Lehrkräften. „Rein statistisch war die Durchfallquote im 2. Staatsexamen in beiden Gruppen gleich“, erinnert er sich. „Was jedoch manchmal ein Problem war, war, dass sich Quereinsteigende mit Diplom- oder Masterabschluss in einem Fach im Vergleich zu den Lehramtsstudierenden für die besseren Fachleute auf ihrem Gebiet gehalten haben.“ Diese hätten ihr Fach dann fast wie an der Uni doziert und seien zu wenig auf die besondere Unterrichtssituation und die Bedürfnisse der Kinder eingegangen, so Hochschild weiter. „Das mag vielleicht an weiterführenden Schulen manchmal funktionieren, keinesfalls aber an Grundschulen. Hier spielt die Fachdidaktik die Hauptrolle und die Lehrkräfte müssen eine hohe Kompetenz auf dem Gebiet der Alphabetisierung und der Vermittlung des Zahlenbegriffs besitzen. Sind die nicht vorhanden, rate ich davon ab, Quereinsteigende in den ersten beiden Jahrgangsstufen an Grundschulen einzusetzen.“
Wie der Einstieg für Quereinsteigende gelingen kann
Was also brauchen die neuen Lehrkräfte, damit der Einstieg gelingen kann? Hochschild plädiert dafür, in der 2. Phase der Lehrer*innenausbildung unbedingt einen Schwerpunkt auf Fachdidaktik zu legen und ihnen außerdem erfahrene Lehrkräfte als Mentoren zur Seite zu stellen, um den Unterricht für eine gewisse Zeit gemeinsam zu gestalten. Ein begleitetes Training on the Job gewissermaßen. Dies hält auch Mayr-Leidnecker grundsätzlich für einen guten Ansatz, leider aber für schwer umsetzbar. „Es herrscht ein so akuter Lehrkräftemangel, dass unsere Neuen sofort zum ‚Brand-Löschen‘ gebraucht werden und nicht noch weitere Kapazitäten belegen dürfen“, so die Lichtenfelser Schulamtsdirektorin.
Thomas Meul hat mit dem Unterrichten im Team sehr gute Erfahrungen gemacht – und macht sie noch immer. Er unterrichtet an der Kölner Heliosschule Arbeitslehre, Technik, Mathe und Kunst. Dort gehört es zum Konzept, dass mehrere sogenannte Lernbegleiter*innen den Unterricht gestalten. „Ich habe das Glück, mit einer sehr erfahrenen Lehrerin in einer Klasse zu sein und viel von ihr lernen zu können“, erzählt er. Selbst ist er erst mit über 50 Jahren Lehrer geworden – nach einer Tischlerausbildung, einem Design-Studium und 19 Jahren als Grafikdesigner und Projektmanager. „Ich war in meinem Unternehmen auch für die Betreuung der Azubis und Dualen Studierenden zuständig“, erzählt Meul, „und habe gemerkt, wie viel Freude es mir macht, junge Menschen in ihrer Entwicklung zu begleiten. Ich habe dann an Schulen hospitiert und mich schließlich zum Laufbahnwechsel entschieden.“
Berufsbegleitend zu seiner Vollzeitstelle als Lehrer hat er eine einjährige pädagogische Ausbildung am Kölner Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung durchlaufen. Wird er nach den Bedingungen für einen erfolgreichen Einstieg gefragt, sagt er: „Vor allem sollte einem klar sein, dass man viel Neues lernen muss und nie auslernt. Und man muss den Kindern gegenüber immer positiv und aufgeschlossen sein.“ Diese Überzeugung teilt auch Hochschild. Eine gesunde Art, auf Menschen zuzugehen, und Enthusiasmus für die neue Aufgabe: Seien diese Voraussetzungen gegeben, könnten alle profitieren – Quereinsteigende, Schüler*innen, Lehrer*innen und die Schule selbst.
Schulen fit machen für die Anforderungen der Zeit
Ist es am Ende so, könnte man provokativ fragen, dass die Quereinsteigenden mehr bieten als die klassisch ausgebildeten Lehrkräfte? „Nein“, sagt Meul, „nicht mehr, sondern etwas anderes. Einen Blick über den Tellerrand und ein Wissen darüber, wie Wirtschaft funktioniert und wie man im Berufsleben zurechtkommt.“ Und weiter: „Diese Mischung, dass Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen zusammenarbeiten, tut den Kindern und dem Unterricht gut.“ Wir müssen aufhören, das Thema Quereinstieg aus der Perspektive des Mangels zu betrachten, findet auch Hochschild. „Schauen wir doch mal auf die Stärken der Quereinsteigenden und bringen sie mit denen der Schule zusammen!“
Die Lebens- und Berufserfahrung und lösungsorientiertes, alltagspraktisches Denken gepaart mit dem Wissens- und Erfahrungsschatz gerade älterer Lehrkräfte: Könnte man beides kombinieren, beispielsweise indem man die schulinterne Fortbildung und den kollegialen Austausch stärkt, bewusst Tandemsituationen schafft und fächerübergreifend, alltagspraktisch unterrichtet, würde der Quereinstieg zu einer Bereicherung für alle, ist Hochschild überzeugt, der sich gemeinsam mit dem Radiojournalisten Leon Stebe im wöchentlichen Podcast „Schule kann mehr“ intensiv mit Schule und ihren Potenzialen auseinandersetzt. „Wir müssen das System gesellschaftsrelevant anpassen und Schule fit machen für die Anforderungen der Zeit“, ist er überzeugt. Und wie könnte das besser gelingen als mit Quereinsteigenden? Sie sind das beste Beispiel für eine sich wandelnde Gesellschaft, die lebenslanges Lernen von allen fordert und in der die Vorstellung, mit 16 oder 18 Jahren den einen richtigen Beruf fürs Leben zu ergreifen, nicht mehr der Realität entspricht.